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Verhandeln als professionelles Handwerk: Abseits aller Argumente - Lorenz Wohanka und Andreas Winheller für "Die Mediation"

Zu Verhandlungen kommt es dann, wenn unterschiedliche Interessen oder ein handfester Konflikt auf dem Tisch liegenDann treffen Menschen aufeinander, die bei aller Professionalität eigene Emotionen und unterschiedliche Verhandlungstaktiken mitbringen. Je nach Bedeutung des Gegenstands kann das früher oder später zu einer zugespitzten Situation und zu massiven Irritationen führen. Dann bedarf es der Fähigkeit, selbstkontrolliert zu handeln.

Lorenz Wohanka und Andreas Winheller für "Die Mediation" Q3/2024

 

Sind Sie ein rationaler Mensch? Diese Frage beantworten Sie, wir, nahezu alle Menschen, gemäß dem erwünschten Selbstbild und den sozialen Erwartungen gern mit ja. Wenn Sie jedoch in sich gehen, erinnern Sie sich gewiss an Situationen, in denen Sie so stark in Ihren Werten, Ideen, Überzeugungen, Interessen provoziert wurden, dass Sie unbedacht, eben irrational und emotional getrieben gehandelt haben. Dies hatte der amerikanische Schriftsteller Ambrose Bierce im Blick, als er schrieb: „Sprich, wenn Du wütend bist, und Du wirst die beste Rede halten, die Du jemals – bereuen wirst.“

Im menschlichen Nervensystem ist dieses Verhalten angelegt. Mitunter ist es angemessen und hilfreich. In anderen Situationen schadet es unseren Zielen. Meist wird uns das bereits bewusst, während uns die sprichwörtlichen Pferde durchgehen – doch dann ist es zu spät.

Bildquelle: stock.adobe.com / Clara
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Selbstkontrolle und die Falle der automatischen Reaktion

Deshalb formulieren Experten für Krisenverhandlung eine Fähigkeit als besonders kritisch: die Selbstkontrolle. Vom ehemaligen Chefverhandler des FBI, Gary Noesner, stammt der Satz: „Wenn wir unsere eigenen Emotionen schon nicht kontrollieren können, wie können wir dann erwarten, die Emotionen des Gegenübers beeinflussen zu können?“

Was bedeutet diese „Selbstkontrolle“? Wir betrachten den Begriff hier aus einer praxisbezogenen Sicht, in die akademische Erkenntnisse und Wissen aus Medizin und Psychologie einfließen. Selbstkontrolle ermöglicht uns, eigene Emotionen, Irritation und auch Provokation durch andere zu spüren, zu erleben, ohne darauf unmittelbar und automatisch reagieren zu müssen. Dazu ist vor allem ein grundlegendes Verständnis dieses reaktionsgetriebenen Ansatzes der Eskalation, also des Verlustes von Selbstkontrolle notwendig.

Wir können diese Eskalation verstehen, wenn wir die uns allen vertraute klassische Stressreaktion des menschlichen Organismus betrachten. Unter Druck kommt es in Bereichen des Mittel- und Stammhirns und in den emotionsverarbeitenden Teilen des Zwischenhirns zu schnellen und für das Überleben sinnvollen automatischen Reaktionen. Da diese den grundlegenden Säugetierfähigkeiten entsprechen, die wir als Angriff, Rückzug oder Erstarrung kennen, kommt es in sozialen Situationen und Verhandlungen zu Problemen. Denn wie sollten mit diesen Reaktionen in Verhandlungen erfolgreiche Ergebnisse erzielt werden? Pointiert: Wann haben Sie das letzte Mal Ihren Verhandlungspartner verprügelt und dadurch eine Verhandlung erfolgreich geführt? Was unseren Vorfahren in der Savanne das Überleben gesichert hat, bedroht heute im Büro allzu oft unseren Erfolg.

Die Überwindung der automatischen Reaktionstendenz

Wer Selbstkontrolle verstehen möchte, muss also die Mechanismen der menschlichen Stressverarbeitung kennen. Diese lassen sich mittels eines präzisen Modells, des Transaktionalen Stressmodells, das auf Richard Lazarus zurückgeht (Lazarus 1966), sehr gut erfassen. Es ist bis heute ein stabiles Modell, das die Grundlage vieler Stressbewältigungstrainings bildet (vgl. Kaluza 2023) und drei Komponenten der Stressentstehung benennt: Stressoren wirken auf einen Organismus ein (1), der diese verarbeitet und bewertet (2). Aus diesem Zusammenspiel entsteht das, was Sie als Stressreaktionen (3) empfinden.

Wenn Sie mit schwierigen Verhandlungspartnern umgehen wollen, dann akzeptieren Sie bereits, dass es Stressoren gibt. Sie holen diese aktiv mit an den Tisch. Das können Sie in der Praxis auch gar nicht immer vermeiden. Ihr Nervensystem bewertet diese Stressoren automatisch und nur in Teilen für Sie bewusst. Aufgrund sehr schneller Bewertungsanteile, die ihren Ursprung in evolutionären Überlebensvorteilen haben, bemerken Sie rasch eine physiologische Reaktion. Diese kann körperlich spürbar sein, beispielsweise in erhöhter Herzschlagfrequenz, plötzlichem Schwitzen, einem flauen Gefühl in Ihrem Bauch oder sich kognitiv-emotional durch Wahrnehmungsverengung oder überschießende Emotion bemerkbar machen.


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Aktiver Umgang mit den eigenen Emotionen

Das richtige Ziel ist demzufolge: Gehen Sie auf dem Weg, andere zu überzeugen oder mitzunehmen, aktiv mit Ihren eigenen Emotionen um. Das falsche Ziel wäre, diese Reaktionen vermeiden oder unterdrücken zu wollen. Aufgrund verschiedener aufmerksamkeitsgesteuerter Mechanismen verstärken Sie durch den Wunsch zu unterdrücken nämlich das, was Sie unterdrücken möchten. Sie kennen einen in der Struktur ähnlich ablaufenden Prozess, wenn Sie sich kognitiv auffordern, nicht an einen rosafarbenen Elefanten zu denken: Das Bild wird immer plastischer, obwohl Sie es unterdrücken möchten.

Die Aufgabe erfolgreicher Selbstkontrolle ist deshalb, eigene Reaktionen rasch so zu integrieren, dass sie entweder dem eigenen Ziel nutzen oder ihm zumindest nicht schaden. Dafür ist es erforderlich, einen kurzen Moment der bewussten Entscheidung in die automatische Reaktion zu integrieren.

Um andere Menschen zu überzeugen, ist es neben rationaler Argumentation auch notwendig, Beziehung zu gestalten. Gehören Sie auch zu den Menschen, die glauben, dass das auf Zufall und/oder gegebener Sympathie beruhen muss? Dann liegen Sie aus unserer Sicht falsch. Denn Forschung wie Erfahrungswerte der Psychologie zeigen, dass Sie Beziehungen entscheidend beeinflussen können. Wie Sie das tun, haben wir Ihnen in einem vergangenen Beitrag dieser Kolumne bereits gezeigt (vgl. Kittl/Winheller 2023: 56 ff.). Praktisch scheitert eine solche Steuerung aber oft daran, dass Sie selbst nicht genug Kontrolle über eigene Emotionen und Reaktionstendenzen haben und deshalb diese Beziehungsarbeit behindern.

Diese Fähigkeit zur Selbstkontrolle ist unabdingbar für Menschen, die andere Menschen in irgendeiner Weise beeinflussen möchten. Ein sehr prägnantes Beispiel ist hierfür die Notfallmedizin. Patientinnen und Patienten müssen auch gegen eigene Widerstände versorgt werden. Sympathie, Antipathie, vielleicht sogar das Wissen um Schuld eines Gegenübers dürfen keine Rolle dabei spielen, wenn es um die Qualität der medizinischen Versorgung geht. Gespräche mit Menschen, die Sie brauchen, erfüllen dieselbe Bedingung. Dies ebenso, wenn Sie mit Ihrem Gegenüber an einem Tisch sitzen und verhandeln wollen. Befinden sich darunter Menschen, deren Werte Sie nicht im Geringsten teilen oder die taktisch provozieren, wird es unter Umständen sehr schwierig.

Es gibt per se keine absolut zu sehende Forderung nach Selbstkontrolle. Wer jedoch mehr davon abrufen kann, hat enorme Vorteile. Sie oder er kann nämlich deutlich besser mit jedweder Irritation, Beleidigung, persönlichem Angriff oder anderen destruktiv erlebten Einflüssen umgehen. Wir können so unsere eigene Agenda proaktiv weiterverfolgen, anstatt uns von anderen „als Geisel nehmen“ zu lassen, also uns in eine unselbstständige Reaktionshaltung zwingen zu lassen, wie es der IMD-Professor und Krisenverhandler George Kohlrieser bezeichnet.

Wie Selbstkontrolle antrainiert werden kann

Die Forderung nach Selbstkontrolle muss praktisch erfüllbar sein. Sie ist nicht durch die bloße Erkenntnis der Notwendigkeit erreichbar. Denn in diesem Fall erkennen Menschen zwar, dass sie reaktionsgetrieben eskalieren, gleichzeitig aber fehlen ihnen die Mittel, mit den Reaktionen umzugehen und sie zu kanalisieren.

In Trainings zu Stressbewältigung für Menschen mit großer Verantwortung zeigen sich stets folgende Anforderungen: Entsprechende Techniken müssen ökonomisch in kurzer bis kürzester Zeit abrufbar sein. Sie müssen sich gut automatisieren lassen, damit sie auch in Drucksituationen kognitiv verfügbar sind.

Aus Sicht der Psychologie müssen alle Schritte eines solchen Trainings Fähigkeiten fördern, mit deren Hilfe wir provozierende oder belastende Reize verarbeiten können. Deshalb unterscheiden viele Stressbewältigungstrainings (vgl. z. B. Derbolowsky 2014, Kaluza 2023) Werkzeuge oder Übungen zur kurzfristigen Entlastung in Akutsituationen von solchen, die langfristig eine Einstellungs- und damit Verarbeitungsänderung bewirken.


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Kurzfristige Selbsthilfe bei innerer Eskalation

Um kurzfristig im sogenannten Driver-Seat, einer aktiven, die Verhandlung steuernden Rolle, zu bleiben, sind Techniken notwendig, die es Ihnen erlauben, Distanz herzustellen. Dabei dürfen Sie eine Situation nicht einseitig verlassen. Das würde zwar Distanz bewirken, gleichzeitig aber die Beeinflussbarkeit in der Situation aufgeben.

Also besteht die Aufgabe eines Trainings darin, verschiedene nicht sichtbare Distanztechniken zu etablieren, die in jedem Umfeld ohne äußere Hilfsmittel abgerufen werden können. In der Verhandlungswelt kennen Sie diese Forderung als „Balkontechniken“ (ein Begriff, den William Ury geprägt hat) – doch die praktische Umsetzung gelingt vielen Verhandlern oftmals nicht.

Methodik des Trainings

Hierzu gibt es in Psychologie und Psychotherapie viele hoch erfolgreiche Ansätze, die speziell in Verhandlungen und schwierigen Gesprächen angewendet werden können. Oft werden dabei kleine Signalreize antrainiert, die Ihnen helfen, zu sich zu kommen. Ein erfolgversprechender Ansatz ist, sich wenige Sekunden nach Innen zurückzuziehen, beispielsweise indem man sich auf wenige Atemzüge konzentriert. Dabei verschiebt sich Aufmerksamkeit. Die leichte Verschiebung bedeutet bereits eine Entlastung in der Spannungsspitze.

Im nächsten Schritt müssen eigene kognitive Eskalationsbewertungen (z. B. „Das darf doch nicht wahr sein!“ oder „Verdammt, was soll ich jetzt machen?“) zuverlässig durch deeskalierende Kognitionen ersetzt werden. Diese Kognitionen werden in speziellen Trainings anhand von Zielbeschreibungen aufgebaut. Beispielsweise benötigen wir eine Kognition, die uns hilft, Gelassenheit und Ruhe zu finden. Es gibt verschiedene kognitiv-emotionale Zielbetrachtungen, die wir benötigen, um Werkzeuge abzuleiten, deren Anwendung uns ruhiger, gelassener, an der eigenen Agenda orientiert sein lässt.

Wichtig dabei: Diese Techniken müssen rational abgeleitet und emotional verankert werden. Wir bahnen so das gewünschte zieldienliche Verhalten im Gehirn (Priming). Dadurch können Sie diese Techniken anwenden können, wenn es darauf ankommt.

Ein klares Verhaltensziel, beispielsweise Distanz, Fokussierung, Ruhe muss also in strukturiertes Handeln übersetzt werden. Erst wenn Menschen den Zielbezug eines Tuns, seine Logik und die Ergebnisse nachvollziehen können und praktisch erfahren, entsteht die Bereitschaft zu lernen.

Dieses Lernen findet dann durch tägliche Wiederholung statt. Die Herausforderung ist dabei, Ihnen Routinen an die Hand zu geben, die unter einer Minute Trainingszeit benötigen. Warum? Damit Sie diese Techniken auch tatsächlich trainieren. Deswegen wird vielfach auf mentales Training gesetzt, also auf die Rolle von bildhafter Vorstellung in Kognition und Emotion. Wenn Sie diese Art von Training umsetzen, erzielen Sie dauerhaft stabile und bessere Ergebnisse im Umgang mit Stress, Provokation und Druck.

Die gute Nachricht: Es gibt mentale Trainings, die wissenschaftlich fundiert und mit überschaubarem Aufwand diese Wirkung erreichen können. Dabei etablieren Sie tägliche Übungsschritte und erleben gleichzeitig Tag für Tag den Abruf von Selbstkontrolle. Die Erfolge werden Sie am Verhandlungstisch bemerken.

Die schlechte Nachricht: Von nichts kommt nichts. Ohne Training werden Sie Ihre Fähigkeit zur Selbstkontrolle nicht verbessern. Auch nicht, wenn Sie diese Kolumne gelesen haben.

 

Literatur

Derbolowsky, Jakob (2014): TrophoTraining®: Dreimal täglich eine Minute gegen Stress und für Gesundheit. Paderborn: Junfermann.

Kaluza, Gerd (2023): Stressbewältigung: Das Manual zur psychologischen Gesundheitsförderung. 5. Auflage: Wiesbaden: Springer.

Kittl, Denis/Winheller, Andreas (2023): Vertrauen ist die Grundlage, Bonding ist das Werkzeug dazu. Die Mediation, Ausgabe 3/2023, S. 56–59.

Kohlrieser, George (2008): Gefangen am runden Tisch. Weinheim: Wiley.

Lazarus, Richard S. (1966): Psychological Stress and the coping process. New York: McGraw-Hill.

Noesner, Gary (2018): Stalling for time. My Life as an FBI Hostage Negotiator. New York: Random House.

 

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