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Sosan Azad: Vom Aufbruch in die neue Heimat – Phasen der Migration
Sosan Azad beschreibt die fünf Phasen der Migration und wie Mediation den Migrationsprozess begleiten kann.
„Heimat ist, wo man sich nicht erklären muss.“
(Johann Gottfried von Herder, Dichter und Kulturphilosoph, 1744–1803)
Stellt man mir die Frage, woher ich komme, lautet meine Antwort: aus Berlin-Neukölln. Irritierte Blicke sind die Folge, denn in Wirklichkeit möchten die Menschen wissen, wo ich geboren bin. Ich lebe seit mehr als 30 Jahren in Deutschland, mehr als mein halbes Leben, eine arrangierte Heirat meiner Eltern führte mich hierher.
Mittlerweile ist Deutschland meine Heimat geworden, denn Heimat ist, wo ich mich nicht erklären muss. Ich bin hier angekommen, doch ebenso wie für die Migranten heute, verlief dieses Ankommen in Phasen und brauchte Zeit. Nach einer Phase des Angepasstseins folgt eine Zeit, in der Werte und Menschen im neuen Kulturkreis kritisch beobachtet, mit der eigenen Ursprungskultur verglichen und bewertet werden. In Verbindung mit den eigenen Bedürfnissen entstehen Konflikte, die ungelöst einen friedlichen Kontakt verhindern. Zu diesem Zeitpunkt ist Mediation sinnvoll, um ein verständnisvolles Miteinander zu erreichen, in dem sich Migranten wie Deutsche zu Hause fühlen können.
Die fünf Phasen der Migration
Der amerikanische Psychologe Carlos E. Sluzki (2001) hat ein Modell entwickelt, in dem der Migrationsprozess in seinen unterschiedlichen Phasen beschrieben wird. Der gesamte Ablauf wird dabei in fünf Schritte eingeteilt, die über einen längeren Zeitraum von Migranten durchlaufen werden:
- Vorbereitungsphase
- Migrationsakt
- Überkompensierung
- Dekompensation
- Anpassung
Im Verlauf der fünften Phase kommt es optimalerweise zu einer Anpassung, die auf einem klaren und gesunden Umgang mit Herkunfts- und Aufnahmekultur beruht und den Migranten ein friedliches und integriertes Leben in Deutschland ermöglicht. Wird sie erreicht, können sich die Migranten in Deutschland beheimatet fühlen.
1. Vorbereitungsphase: die Reise wird geplant
Es gibt viele Gründe, warum Menschen sich entschließen, ihr Herkunftsland zu verlassen. Ob Rettung aus Lebensgefahr oder die Suche nach einem besseren Leben für sich selbst und die Kinder als Motivation vorliegen, bestimmt auch die Art des Abschieds von Freunden und Verwandten sowie der Heimatkultur selbst. Immer ist auch ein Auftrag Teil dieser Phase: schlichtweg zu überleben oder die Anstrengung wertzuschätzen, die zum Beispiel die Eltern auf sich genommen haben, um ihrem Sohn oder ihrer Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen. Mit der Entscheidung zur Flucht oder Ausreise wird dieser Auftrag angenommen und beeinflusst meist unbewusst Handlungen und Gefühle der Migranten.
2. Migrationsakt: unterwegs in das neue Land
Oft nehmen Menschen lange und schwierige Wege auf sich, um von ihrem Heimatland aus nach Deutschland zu gelangen. Wie dieser Weg aussieht, welche Erlebnisse und Traumata den Menschen auf der Reise begegnen, bestimmt auch ihre Verfassung bei der Ankunft. Lebensgefährliche Situationen, die Schwierigkeiten bei der Überwindung von Landesgrenzen und damit verbundene Gefühle von Angst und Erniedrigung, aber auch freundliche und hilfsbereite Unterstützung können Teil des Weges sein und beeinflussen die Art und Weise, mit der ein Migrant seine Ankunft in Deutschland erlebt.
3. Überkompensierung: Versuch des Ankommens
In den ersten ein bis zwei Jahren nach ihrer Ankunft sind Gefühle und Handlungen von Migranten davon geprägt, mit dem Erlebten und der neuen Kultur zurechtzukommen. Eventuell schlimme Erlebnisse auf der Flucht werden verdrängt, die Menschen wollen es „gut“ haben im neuen Land, die Anstrengungen sollen sich lohnen. Das hat eine hohe Kompromissbereitschaft zur Folge, Konflikte werden verdrängt, die Neugier herrscht vor. Die Menschen sind mit sich selbst beschäftigt und damit, sich zurechtzufinden. Gerade in der ersten Zeit nach der Ankunft kommt ein Schockzustand hinzu. Zusammengenommen sorgen diese Faktoren dafür, dass in der ersten Zeit nach der Einreise auch in den Erstauffanglagern vergleichsweise wenige Konflikte auftreten. Dies wird durch die anfangs hohe Toleranz aufseiten der Deutschen unterstützt. In der Phase der Überkompensierung erfahren Migranten auch körperlich die Andersartigkeit des neuen Landes. Wetter, Uhrzeiten und der Umgang miteinander in der neuen Kultur unterscheiden sich von jenen der Heimat teilweise komplett und müssen erfahren und verarbeitet werden. So erleben die Menschen zum Beispiel in der Zeit des Ramadans zwischen Mai und Juni, in der erst nach Einbruch der Dunkelheit gegessen werden darf, dass die Dauer des täglichen Fastens nicht wie zu Hause neun Stunden, sondern 15 Stunden oder mehr betragen kann.
4. Dekompensation: soziale Bedürfnisse erwachen
Etwa zwei bis drei Jahre nach der Ankunft in Deutschland ist der Prozess des Ankommens abgeschlossen, das Überleben gesichert. Der Wunsch, dass nun auch die sozialen Bedürfnisse erfüllt werden, wächst. Die Migranten wollen dazugehören, sie wünschen sich Anerkennung, Freunde, Arbeit und die Möglichkeit, ihr Leben und ihr Umfeld aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig werden die eigenen Werte wieder wichtiger. Die Ursprungskultur wird idealisiert, im gleichen Maße wird die neue Kultur abgewertet. Besonders dann, wenn die sozialen Bedürfnisse unerfüllt bleiben, entstehen Wertekonflikte, es beginnt ein „Kulturmachtkampf“, der zu Unverständnis und Distanz führt. Oft bleiben diese Konflikte ungelöst. Wird hingegen ein Mediator hinzugezogen, setzt er genau an diesem Punkt an. Mit einer neutralen allparteilichen Haltung dient er als Übersetzer der Wünsche und Vorstellungen auf beiden Seiten und ermöglicht eine Verständigung, die zu Verständnis und Akzeptanz führt.
5. Anpassung: Ankommen in der neuen Heimat
Die Anpassung von Migranten in Deutschland gilt dann als gelungen, wenn ein friedvoller Umgang mit der Aufnahmekultur gefunden ist. Dabei geht es nicht darum, dass die eigene Kultur zugunsten der deutschen Werte vergessen wird, vielmehr entsteht eine Mischung aus den eigenen Werten und denen der neuen Heimat. Verstehen und Verstandenwerden auf beiden Seiten sind wichtige Aspekte dafür, dass Migranten Deutschland als ihre Heimat betrachten, sich zu Hause fühlen und ein friedliches Leben mit wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit führen können. Kommt es dazu, dann ist die Integration gelungen. Die
Mediation im Migrationsprozess – Wege zur Integration
Die in der vierten Phase der Migration aufkeimenden Konflikte zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen sind oft kaum lösbar, die Fronten verhärten sich, das Aufeinanderzugehen wird zunehmend schwerer. Dauerhaft ungelöste Konflikte schaffen Distanz. Aus diesem Grund ist es von enormer Bedeutung, in dieser Phase anzusetzen und einer Dekompensation gezielt entgegenzuwirken. Nur so ist es möglich, den bereits erwähnten „Kulturmachtkampf“ zu vermeiden und eine Abkehr von der „Gastgebergesellschaft“ zu verhindern. Mediation befähigt die Menschen, die Hintergründe des Konflikts zu reflektieren und miteinander in einen Dialog zu treten. Durch viele wertfreie Fragen schafft sie für die Konfliktparteien die Gelegenheit, ihr Gegenüber zu verstehen. Erst damit ist eine Basis geschaffen, in der Konflikte besprochen und gemeinsam gelöst werden können. Den Mediatoren erwächst aus ihrer exponierten Rolle – ebenso wie anderen Verantwortlichen, zum Beispiel aus Politik, Wirtschaft oder dem Sozialbereich – eine Verantwortung dafür, dass der Migrationsprozess erfolgreich abgeschlossen wird. Dies gelingt durch die Lösung der interkulturellen Konflikte und die Integration der Migranten in das soziale und wirtschaftliche Leben in Deutschland. Jeder innerhalb einer Mediation gelöste Konflikt leistet einen Beitrag für die Gesellschaft, es entsteht ein nachhaltiger Lernund Schneeballeffekt – sowohl bei den Migranten als auch bei den Deutschen. Die verständnisvolle Haltung, die innerhalb einer mediierten Konfliktlösung entstanden ist, tragen sie nach außen weiter, Haltung und Umgang übertragen sie in der Folge auch auf andere Situationen. Gelingt es, beide Kulturen sinnvoll zu vereinen, ohne dass (weitere) kulturbedingte Konflikte zwischen beiden auftreten, gelingt auch die Integration.
Literatur
Sluzki, Carlos E. (2001): Psychologische Phasen der Migration und ihre Auswirkungen. In: Hegemann, Thomas / Salman, Ramazan (Hrsg.): Transkulturelle Psychiatrie, S. 101–115. Bonn: Psychiatrie Verlag.
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Sosan Azad Sosan Azad ist Sozialpädagogin, interkulturelle Trainerin, Mediatorin BM® und Supervisorin (DGSV). Sie ist Geschäftsführerin von StreitEntknoten. Ihre Schwerpunkte sind interkulturelle Kompetenzen, Konfliktmanagement, Mediation, Prozessbegleitung, Organisationsberatung, Supervision, Coaching und Moderation. Außerdem ist Azad Leiterin des IKOME® Interkulturellen Zentrums und im Beirat des Internationalen Mediationszentrums für Familienkonflikte und Kindesentführung MIKK e.V.
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Dieser Artikel ist im Fachmagazin "Die Mediation", Ausgabe Q3-2017 erschienen. |
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Kommentare
Kommentar von Sophie Michl |
Vielen Dank für diesen interessanten und aufschlussreichen Artikel, liebe Sosan! Gerade die unbekannte Kultur für beide Seiten macht es, denke ich, so schwer empathisch zu sein. Viele Grüße, Sophie Michl
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